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Symptombekämpfung #1: Pacing, die Dialektik von Long Covid

Aktualisiert: 20. Sept. 2022





"Wenn er so die Straßen kehrte, tat er es langsam, aber stetig:

Bei jedem Schritt einen Atemzug und bei jedem Atemzug einen Besenstrich.

Schritt – Atemzug – Besenstrich. Schritt – Atemzug – Besenstrich.

Dazwischen blieb er manchmal ein Weilchen stehen und blickte nachdenklich vor sich hin. Und dann ging es wieder weiter: Schritt – Atemzug – Besenstrich."

(Beppo Straßenkehrer in Michael Endes Momo)


Alle reden davon. Die Expert:innen schwören darauf. Pacing ist wohl die effektivste Form der Symptombekämpfung von Fatigue und Belastungsintoleranz bei Long Covid. Aber was bedeutet es, wie kann ich es praktizieren und warum verflixt nochmal bekomme ich es noch immer nicht hin??


In aller Kürze bedeutet Pacing:


TU DINGE NUR SO LANGE UND SO INTENTSIV, DASS DU NICHT IN EINE ANSTRENGUNG KOMMST.


Klingt einfach, ist es aber nicht.


Warum es das nicht ist, möchte ich aus Perspektive einer Betroffenen kurz erläutern. Aus meiner Sicht gibt es zwei große Herausforderungen beim Pacing:


Das Dialektische am Pacing ist die Synthese aus NICHT TUN und TUN. Also ich liege, erhole und raste einerseits. Ich bewege mich, stärke meine Muskulatur und gebe meinem Körper Aktivierungsanreize andererseits. In der richtigen Balance schaffe ich damit ein Gleichgewicht, das mein Organismus gerade selbstständig nicht in der Lage ist herzustellen. Wie in der philosophischen Dialektik - und deswegen habe ich diesen Begriff ausgewählt - ist eine derartige Synthese ein sehr intensiver Prozess mit herausfordernder Dynamik. Wann kann/soll/muss ich aktivierende Akzente setzen? Wie lange kann/soll/muss ich mich erholen? Alles eine Frage der Achtsamkeit und des Körpergefühls meinen die Expert:innen. Es gibt nicht DAS Pacing. Es gibt nur MEIN Pacing und DEIN Pacing und IHR Pacing und SEIN Pacing und so weiter und so fort. Diese Achtsamkeit und diese Sensibilität im Körpergefühl hatte ich als gesunder Mensch nicht, weil es nicht notwendig war. Ich möchte damit verdeutlichen, dass es sich bei Pacing nicht einfach um einen Prozess von "Ja wenn du müde bist, dann ruh dich halt aus" handelt. Eine Anstrengung zu spüren bevor sie da ist, stellt eine völlig neue Anforderung an unser Körpergefühl dar. Insbesondere Menschen wie ich, die vor Long Covid mit einem Übermaß an Energie ausgestattet waren und nach wie vor viel Motivation in sich tragen, müssen dieses sensible Gleichgewicht aus Ruhe und Aktivität in einem sehr herausfordernden Prozess erlernen. Und wir wissen alle, woraus wir am besten lernen...


Ein interessanter und gleichzeitig herausfordernder gesellschaftlicher und psychologischer Aspekt am Pacing ist der starke Kontrast zu dominanten Dogmen unserer Erziehung, Arbeitswelt und Therapieansätzen. Von klein auf wird uns in der Sozialisation beigebracht in belastenden Situationen "durchzubeissen". Das Schwäche nicht durch Training sondern durch Entspannung behandelt und überwunden wird, widerspricht der Logik einer Leistungsgesellschaft, die gewohnt ist sich stetig über eigene und fremde Grenzen hinwegzusetzen. Wir sind darauf getrimmt, immer effizienter und optimaler unsere Fähigkeiten einzusetzen. Und jetzt kommt dieses Konzept von Pacing daher, bei dem wir rein gar nichts von der Härte gebrauchen können, die wir in mühsamer jahrzehntelanger Übung gegenüber unserer körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit erworben haben. Beim Pacing ist plötzlich höchste Sensibilität, Selbstfreundlichkeit und Sanftmut gegenüber unserem Körper gefordert. Ich bin dankbar, dass ich seit Jahren durch Psychotherapie und praktische Auseinandersetzung mit Gewaltfreier Kommunikation meine Selbstfürsorge und Selbstachtsamkeit schon vor Long Covid üben konnte. Dennoch fordert mich der Prozess des Pacings ungemein heraus.


Nach diesen theoretischen Gedanken möchte ich in aller Klarheit beschreiben, was ich in meinem Genesungsprozess als mein Pacing praktiziere. Ich möchte klarstellen, dass mir bewusst ist, wie privilegiert ich bin. Ich bin im Krankenstand, habe einen liebevollen Partner, mit dem ich zusammenwohne und der mich neben meinem tollen sozialen Umfeld unterstützt, habe keine finanziellen Sorgen und vor allem keine Versorgungsverpflichtungen gegenüber anderen Menschen oder Tieren in meinem Umfeld. Diese Faktoren bieten bedeutsame Rahmenbedingungen, die mir mein Pacing in dieser Form ermöglichen:


  • Ich achte auf meine Pulsuhr und sobald ich über 100 komme, höre ich sofort auf mit was auch immer ich gerade mache und raste. Und ja es gibt Tage, an denen drehe ich mich nur zur Teekanne um und bin schon auf 100. Dann warte ich und atme tief ein und aus, bis der Puls wieder runter ist. Bereits kurze Wege in der Wohnung und Alltagshandlungen sind an diesen Tagen anstrengend. Aber ich schaffe alles. Langsam. Mit vielen Pausen. Und nicht zu jedem Tageszeitpunkt. Wenn der Puls zu schnell rauf geht, ist es jetzt gerade nicht der Moment, um das zu tun. Dann warte ich und atme tief und versuche es später nochmal. Irgendwann ist mein Körper bereit.


  • Ich versuche alles loszulassen, was in meinem Kopf mit einem "Das kann ja nicht sein!" daherkommt:

    • wenn ich beim Kochen nicht mehr weiterkomme, weil es zu anstrengend wird, dann lasse ich einfach alles stehen und liegen und raste...

    • wenn ich nach der Hälfte der Wäsche nicht mehr kann, liegt die andere Hälfte zusammengeknüllt auf dem Wäscheständer - na und...

    • egal welche Tätigkeit mein Geist gerade abschliessen will, wenn mein Körper zu ko ist, muss sofort gestoppt werden

    • ich versuche den Willen des Gesundwerdenwollens über den Willen des Alltags, des Vergnügens und des Fleißes zu stellen


  • Ich versuche wirklich gut und intensiv auf meinen Körper zu hören, was er gerade braucht und dementsprechend zu handeln:

    • ich versuche schon kleinste Impulse und Anzeichen meines Körpers zu berücksichtigen

    • spüre ich einen Mini-Impuls zu Aktivität und Bewegung, gehe ich dem nach

    • spüre ich ein Bedürfins zu Ruhe und Entspannung, bekommt mein Körper das

    • brauche ich 3 Stunden in der Früh, um aus dem Bett zu kommen, darf das sein


  • Ich akzeptiere, dass ich nicht mehr die schnellste Maus von Mexico, sondern das Faultier aus Zoomania bin

    • ich bewege mich an schlechten Tagen in Zeitlupentempo (auch wenn es meinen Freund wahnsinnig macht)

    • ich gehe auch im öffentlichen Raum in meinem Schneckentempo, egal wie viele Autos mich am Zebrastreifen anhupen

    • ich bin mir bewusst, dass mein biologisches Alter wohl gerade jenseits der 90 liegt


  • Ich erkenne an, dass meine Sensibilität anders ist als vor der Corona Infektion

    • plötzlich brauche ich eine Sonnenbrille

    • laute Musik und zuviele akkustische Reize überfordern mich, daher meide ich sie

    • Unterhaltungen in großen Gruppen überfordern mich, daher meide ich sie

    • Sozialkontakte sind plötzlich anstrengend, daher reduziere ich sie

    • meine Emotionalität ist schneller aktiviert, daher versuche ich mit Meditation und Entspannung in einem guten Flow zu bleiben und alles zu vermeiden, was größere gefühlsmäßige Wellen schlägt - aber es ist das Leben und immer kann das nicht verhindert werden...


  • Ich bemühe mich um Geduld und Akzeptanz für mich und meinen Körper in diesem Prozess - Long Covid ist ein Marathon und kein Sprint


  • Meine gepacte Tagesstruktur


  • Mein Morgenritual beginnt damit meinem geistigen Morgennebel so viel Zeit zu geben, wie er benötigt, um sich zu verziehen. Danach mache ich eine Morgenmeditation. Danach lese ich ein wenig, bis ich mich fit genug fürs Aufstehen fühle. Wenn es meine Kräfte zulassen, absolviere ich zum Start in den Tag die Wim Hof - Methode.


  • Untertags wechseln Aktivitäts- und Erholungsphasen

    • geistige Aktivität (Lesen, Schreiben, Fernsehen, Plaudern/Chatten, Internetsurfen, Hörbuch hören etc.) für maximal eine Stunde

    • körperliche Aktivität (je nach Tagesverfassung: kleine Haushaltstätigkeiten, Bewegung zur Musik, Minispaziergang, Dehnen,etc.) so lange es Puls und meine Kräfte zulassen

    • Erholung (einfach nur daliegen, Meditieren, Entspannungsmusik hören)


  • Am Abend vermeide ich ab 21h in einen Bildschirm zu schauen. Hier hat sich für mich in letzter Zeit das Hörbuch hören als sehr entspannend und angenehm als Abenroutine etabliert. Sollte ich mit dem Einschlafen Probleme haben, höre ich eine Einschlafmeditation oder Entspannungsmusik.


Das sind also meine persönlichen Pacing Leitlinien. Ich schaffe es nicht immer sie zu berücksichtigen. Aber ich bemühe mich darum. Und jeder Rückfall /Crash oder wie auch immer es genannt wird, lässt mich wieder etwas lernen, noch achtsamer mit mir umgehen und verpasst meinem Pacing die notwendige Feinabstimmung.



Last but not least möchte ich euch hier die für mich hilfreichsten Links und Unterlagen mit Infos zum Thema Pacing mitgeben, die mir so untergekommen sind:

















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